Neues Forschungsprojekt: Der Schlaganfallpatient stellt sich vor, wie er sein gelähmtes Körperteil bewegt. Dann bewegt es sich – im virtuellen Raum. Im Gehirn sollen dadurch neue Aktivitätsmuster trainiert werden.
(Tübingen – 13.11.2019) Jedes Jahr erleiden in Deutschland rund 270.000 Personen einen Schlaganfall. In der neurologischen Therapie halten „Health Games" immer mehr Einzug – digitale Spiele, die Spaß machen und gleichzeitig dafür sorgen, dass der Patient seine Defizite trainiert.
In diesem Zusammenhang soll ein neues Forschungsprojekt mithilfe von virtueller Realität im Gehirn neue Aktivitätsmuster nach einem Schlaganfall trainieren. Dafür arbeiten Wissenschaftler am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Universitätsklinikum Tübingen am Forschungsprojekt „Rehality". Sie wollen eine hochimmersive, also eine möglichst realitätsgetreue, virtuelle Realität (VR) entwickeln, in der Schlaganfallpatienten wahrnehmen, wie sich ihr chronisch gelähmtes Körperteil bewegt. Das Besondere daran: Die virtuellen Bewegungen werden abhängig von der Gehirnaktivität gezeigt. Um sie in der VR-Brille zu sehen, müssen sich die Patienten die Bewegung mental vorstellen. Das soll das Gehirn anregen, sich umzustrukturieren und langfristig neue und effizientere Aktivitätsmuster zu speichern.
„Nehmen Patienten im virtuellen Raum wahr, wie sie eine gelähmte Hand bewegen können, so begünstigt diese Illusion die Reorganisation von Netzwerken im Gehirn und damit den Heilungsprozess", sagt Studienleiter Professor Ziemann. „Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass der Zustand des Gehirns zum Zeitpunkt der Stimulation entscheidend dafür ist, ob es zu einer plastischen Veränderung der Hirnnetzwerke kommt oder nicht." Professor Ziemann arbeitet daher seit Jahren an der sogenannten closed-loop Stimulation. Dabei liest und wertet ein Elektroenzephalogramm (EEG) die Gehirnaktivität in Echtzeit aus. Die Daten erlauben dann im optimalen Zeitpunkt einzugreifen und das Gehirn zu stimulieren – in diesem Fall mit der Wahrnehmung und Durchführung einer Bewegung.
„Mit „Rehality" soll der Patient in Bewegung gebracht werden. Dabei trainiert er neue Aktivitätsmuster im Gehirn. Langfristig sollen die Muster gestärkt werden, die effizient zu einer Bewegung führen", sagt Projektkoordinator Dr. Christoph Zrenner. Im virtuellen Raum sieht der Patient, wie sich etwa seine gelähmte Hand hebt. Der Trick: Durch das closed-loop Paradigma wird ihm immer nur dann eine virtuelle Bewegung angezeigt, wenn der Proband tatsächlich mit maximaler Mühe versucht, die Hand zu bewegen.
Doch wie sieht das Aktivitätsmuster im Gehirn aus, wenn wir eine Hand heben? In der ersten Phase des Forschungsprojekts wird Fragen wie dieser auf den Grund gegangen und die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen erforscht. Die klinischen Tests an Schlaganfallpatienten mit chronischen Lähmungen erfolgen dann im zweiten Schritt, der voraussichtlich Ende 2020 beginnt.
„Bis „Rehality" standardmäßig in der Therapie eingesetzt werden kann, dauert es noch einmal ein paar Jahre", sagt Professor Ziemann. Langfristig soll die „Rehality"-Therapie die Versorgungslücke zwischen stationärer Akutbehandlung, Rehabilitation und Therapie zu Hause schließen. Das soll zum einen Kosten einsparen und zum anderen den erfolgreichen Wiedereinstieg in ein eigenständiges Leben und Erwerbsfähigkeit beschleunigen. „Damit wir dieses Ziel erreichen, muss „Rehality" Spaß machen. Wir hoffen, dass es wie andere digitale Spiele eine Art Suchtfaktor mitbringt, der den Patienten gerne und lange trainieren lässt", sagt Ziemann. Denn je attraktiver das Spiel, desto größer der Trainingserfolg.
Quellen: Presseinformation der Universitätsklinikum Tübingen vom 08.05.2019: Chronischer Schlaganfall: Digitale Therapie mit „Suchtfaktor“
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