Telepräsenz-Roboter für Menschen mit Demenz

Ein aktuelles Projekt der Hochschule Fulda testet, wie Telepräsenz-Roboter Menschen mit Demenz und deren Angehörige unterstützen können. Wo liegen die Chancen, wo die Risiken dieser Technologie?

(Fulda – 30.06.2020) Hochrechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigen, dass die Zahl der pflegebedürftigen Personen in Deutschland von aktuell 3,4 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 5,3 Millionen ansteigen wird. Dem stehen immer weniger Pflegekräfte gegenüber. Die Situation verschärft sich besonders auf dem Land. Ein Team der Hochschule Fulda erforscht den Einsatz von Telepräsenz-Robotern für zu Hause lebende Menschen mit Demenz. Ausgangspunkt ist, wie pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen in ihrem Alltag unterstützt werden können. Erste Hinweise zeigen, dass die Technik äußerst hilfreich empfunden werden kann, dennoch stellen sich Fragen nach möglichen negativen Wirkungen.

Das Projekt: Telepräsenz-Roboter für Menschen mit Demenz

Angehörige aus der Ferne zu pflegen, wird in Zukunft eine immer größere Rolle spielen, vor allem in ländlichen Gebieten. „Die Kinder ziehen weg zu ihren Arbeitsplätzen in weiter entfernte Städte. Die Eltern, die pflegebedürftig werden, sind daheim – und trotz aller gesetzlicher Neuregelungen – konfrontiert mit einer lückenhaften sozialen Versorgung", sagt die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Helma M. Bleses von der Hochschule Fulda.

Im Projekt RoboLand – „Telepräsenz-Robotik im häuslichen Lebens- und Pflegearrangement von Personen mit Demenz im ländlichen Raum" – erforscht sie mit ihrem Team, welchen Beitrag Technik für zu Hause lebende Menschen mit Demenz leisten kann, um Selbstbestimmung, Mobilität und soziale Teilhabe zu ermöglichen, aber vor allem auch die Angehörigen zu unterstützen. Wissenschaftlicher Partner sind die Hochschule St. Gallen und Informatiker und Experten für autonome Systeme der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.

Rollender Segway mit Tablet

Das technische System ist eine Art rollender Segway, auf dessen Lenkstange ein Tablet montiert ist. Das System wird per Pfeiltasten auf einem PC oder per Smartphone von den Angehörigen gesteuert. So können beispielsweise Kinder aus der Ferne ihre Eltern durch die Wohnung begleiten. Fünf Familien in zwei ländlichen Regionen in Hessen – im Vogelsbergkreis und in der Stadt Trendelburg im Landkreis Kassel – nehmen für dreieinhalb Jahre am Projekt teil. RoboLand wurde im vergangenen Jahr vom GKV-Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen als Anwendungsbeispiel für eine Fallstudie ausgewählt..

Die Forschungsmethode

Das Forschungsteam wertet Videos aus dem Alltag mit dem Telepräsenz-Roboter aus und beobachtet die Interaktionen, ohne selbst zu einzugreifen. Es handelt sich um eine qualitative Langzeitstudie. Datengrundlagen sind Beobachtungen, Protokolle, videografische Aufzeichnungen von Situationen. Zusätzlich führen sie Interviews mit Angehörigen, den Personen mit Demenz – soweit deren Situation dies zuließ – und mit Pflegekräften.

Die zentralen Fragen sind: Wie wirken sich die Kommunikation und Intervention durch Telepräsenz-Roboter auf Personen mit Demenz, deren pflegende Angehörige sowie professionell Pflegende aus? Sind Telepräsenz-Roboter geeignet, Krisensituationen im Pflegealltag zu reduzieren beziehungsweise zu vermeiden? Trägt dies zu einem Sicherheitsempfinden bei den Personen mit Demenz und deren betreuendem Umfeld bei? Und welche ethischen Fragestellungen ergeben sich?

Erste Erkenntnisse: mehr Freude und Aktivität im Alltag

„Die ersten Erkenntnisse weisen darauf hin, dass der Einsatz von Telepräsenz-Robotik sowohl von Personen mit Demenz wie auch den Angehörigen als überaus unterstützend empfunden werden kann", sagt Prof. Bleses. Die Projekt-Teilnehmenden gingen äußerst innovativ mit dem System um: Sie wählten Mittagessen und Kleidung zusammen aus, tranken miteinander Kaffee, nahmen eine gemeinsame Mahlzeit ein oder leisteten sich einfach nur Gesellschaft.

Der Telepräsenz-Roboter bietet den Personen mit Demenz Potenzial zur Freude, Aktivität und Kommunikation und ermögliche sogar die (Wieder-)Entwicklung von Kompetenzen, beobachtete das Forschungsteam. „Eine der Personen mit Demenz fand sich zum Beispiel plötzlich in einer Situation wieder, in der sie die technischen Defizite des Systems und die Unsicherheit der Angehörigen beim Versuch, den Roboter in seine Landestation zu navigieren, durch gezielte Hinweise und Kommandos kompensierte", sagt Prof. Bleses.

Erhöhte emotionale Belastung der Angehörigen

Bei den Angehörigen beobachteten die Forscher neben Freude und Sicherheitsempfinden eine erhöhte emotionale Belastung, weil deutlich wurde, dass sich der Zustand der Mutter oder des Vaters verschlechtert hatte. „Solche Entwicklungen müssen wir mitdenken und im Blick behalten, um zu verhindern, dass die Angehörigen durch den Einsatz von Technik noch zusätzlich belastet werden", sagt Prof. Bleses. Andererseits sei den Angehörigen aber auch klargeworden, wo es mehr Unterstützung für die Person und ein größeres Netzwerk an Helfern brauche. Darüber hinaus bekamen die Angehörigen, die sich aus der Ferne um die Pflegebedürftigen kümmern, das Gefühl, tatsächlich vor Ort gewesen zu se

Vernetzung mit professionell Helfenden

Das Telepräsenz-System kann helfen, mit Pflegedienst oder Ärzten zu kommunizieren. „Wir sehen hier für Angehörige eine gute Möglichkeit, sich durch technische Systeme mit den professionellen Helfern zu vernetzen, ohne vor Ort sein zu müssen. Gerade das kann für erwerbstätige pflegende Angehörige eine große Unterstützung sein", sagt Prof. Bleses. Auch lässt sich zum Beispiel via Bildschirm klären, ob ein Verbandswechsel sofort erfolgen muss oder auf der nächsten Tour des ambulanten Pflegedienstes eingeplant werden kann. „Es ging und geht bei dem Projekt aber auf keinen Fall darum, professionelle Pflegepersonen durch Technik zu ersetzen, sondern vielmehr darum, nach Potenzial zu suchen, mit dem die Pflege unterstützt werden kann".

Mehr gemeinsame Zeit – keine Zeitersparnis

Die Fallbeispiele zeigen auch, dass Telepräsenzsysteme keine Zeitersparnis bringen. Im Gegenteil. Kaum ein Kontakt dauerte unter 30 Minuten. Bis zu drei Stunden am Tag verbrachten etwa drei Töchter mit der Mutter, ohne auf ihre Besuche am Wochenende zu verzichten. „Insgesamt erweitern Telepräsenzsysteme die Möglichkeiten des gemeinsamen Erlebens", sagt Prof. Bleses.

Ethische Fragen klären

Um ungewollte Eingriffe in die Privatsphäre zu verhindern, kündigten im Projekt die Angehörigen ihren Besuch vorher telefonisch an. Dies vor dem Hintergrund, dass sich im Forschungsprojekt zahlreiche ethische Fragen stellen: Da die robotischen Systeme alltagsnah im privaten, geschützten Raum eingesetzt werden, greifen sie entscheidend in die Lebenswelt einer Person mit Demenz ein. Stimmt diese dem Einsatz zu? Kann sie überhaupt abschätzen, welche Implikationen dies für ihre Privatsphäre und den Datenschutz hat? Kann sie Überwachungsfunktion auf der einen und Kommunikationsoptionen auf der anderen Seite gegeneinander abwägen? Das Projektteam beobachtete, dass Angehörige das System einsetzten, um zu prüfen, ob die pflegebedürftige Person das Notrufarmband trägt oder ausreichend getrunken hat über den Tag. „Diesen Eingriff in die Privatsphäre reflektieren wir von Beginn an und im Verlauf des Projektes immer wieder neu unter ethischen Gesichtspunkten mit der Frage, ob er Schaden erzeugt oder ihn doch verhindert", sagt Prof. Bleses.

„Mit welchen Wirkungen und Auswirkungen der Technik zu rechnen ist und welche ethischen Implikationen die Mensch-Maschine-Interaktion unter Einbindung von Personen mit Demenz hat, können wir noch nicht abschließend beurteilen. Viele ethische Fragen sind noch offen und ergeben sich immer wieder neu", sagt Prof. Bleses.

Grenzen durch Infrastruktur

Ein Problem aus technischer Sicht ist, das auf dem Land häufig ein ausreichender und stabiler Internet-Anschlusses sowie technischer Support fehlt. So kommt es zu Computerabstürzen, Störungen und Ausfällen. „Die Infrastruktur und Technik sind noch nicht so ausgereift, dass ein routinemäßiger Einsatz ohne weiteres möglich erscheint", sagt Prof. Bleses.

Quellen: Pressemitteilung der Hochschule Fulda vom 12.03.2020: Wie Telepräsenz-Roboter Menschen mit Demenz und deren Angehörige unterstützen können

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